Widerspruch lohnt sich: Verfahren wegen Theodor-Heuss-Ring Blockade eingestellt

Am 26. April 2019 zogen über 2000 Demonstrant_innen unter dem Motto „Verkehrswende statt Rush Hour“ über den Theodor-Heuss-Ring, einer der Hauptverkehrsstraßen Kiels. Etwa 60-70 Aktivist_innen blieben auf der ansonsten vielbefahrenen Straße sitzen und legten so weitere Stunden vehementen Protest gegen stinkende Autos, Luftverschmutzung und menschengemachten Klimawandel ein. Die Stadt verschickte daraufhin Bußgeldbescheide, gegen die von den meisten Betroffenen Widerspruch eingelegt wurden. So hätte es ab diesem Frühjahr dutzende Prozesse geben müssen. Die Verfahren wurden jetzt jedoch erfreulicherweise eingestellt: „Wie es tatsächlich abgelaufen ist, hätten in bis zu 60 Verfahren vor dem Kieler Amtsgericht jeweils eigene Beweisaufnahmen klären müssen – unverhältnismäßig hoher Aufwand angesichts der geringen Strafen, bewertete letztlich auch die Staatsanwaltschaft.“ (KN-Online, 13.5.2020).

Wir freuen uns über diesen Erfolg! Er zeigt einmal mehr, dass eine kollektive Prozessführung und Absprachen über ein gemeinsames Vorgehen bei Massenanklagen sehr sinnvoll sind.

Wir dokumentieren den Artikel der Kieler Nachrichten vom 13.5.2020:

„Keine Strafe für Blockade – Hat die Stadt die Demos verwechselt?“

„Zahlen für das Blockieren des Theodor-Heuss-Rings? Nachdem die Stadt Kiel im Anschluss an eine Demo im April 2019 Dutzende Bußgeldbescheide ausgestellt hatte, sind die Verfahren nun eingestellt worden. Nicht nur der Aufwand festzustellen, was tatsächlich passiert ist, ist zu groß.“

„Laut Verteidigern hat die Stadt sich bei den Bescheiden auch schlicht vertan. Das bekräftigt Jan Kürschner, einer der Anwälte aus der Verteidigung. \“Eigentlich haben sie einfach die falsche Demo aufgeschrieben.\“ Um nachzuvollziehen, wie das passieren konnte, muss noch einmal der Ablauf vom 26. April rekapituliert werden: Rund 1600 Teilnehmer zogen an diesem Nachmittag aus der Innenstadt auch über den Theodor-Heuss-Ring. Kiels zentrale Verkehrsachse musste dafür einseitig gesperrt werden. Dort verharrte die Demo zunächst, bis der Großteil Richtung Hauptbahnhof abzog. Nun wird es knifflig: Einige Menschen blieben auf dem Theodor-Heuss-Ring. Der Anmelder der Großdemo sagte sich aber wohl offiziell von diesen los und zog mit der Demo ab. Schließlich soll jemand aus der auf dem Heuss-Ring verbliebenen Menge zunächst eine neue Spontan-Demo vor Ort angemeldet haben. Später zog aber auch diese Person ab. Und nun? Gab es damit eine neue Versammlung? Welche Versammlung hätte wie aufgelöst werden müssen? Zumindest saßen weiterhin Dutzende auf dem Theodor-Heuss-Ring – und wurden gegen Abend von der Polizei davongetragen. Fraglich ist, ob deren Versammlung zuvor vom Ordnungsamt offiziell aufgelöst worden war und dieses die Personen dreimal zum Gehen aufgefordert hatte. Das könnte laut Versammlungsfreiheitsgesetz notwendig sein. In jedem Fall wurden ihre Personalien aufgenommen, und Bußgeldbescheide von rund 180 Euro landeten in ihren Briefkästen. Die Folge? Einige der Betroffenen zahlten die Bescheide. Andere legten Einspruch ein und gingen dagegen vor – und müssen jetzt nicht mehr zahlen, da die Verfahren eingestellt wurden. Rechtsanwalt Kürschner hatte zuvor schlicht auf Folgendes hingewiesen: \“Dass eine zweite Demo vor Ort war, ist völlig unstrittig.\“ Auf den Bescheiden steht aber noch immer die Großdemo, die längst abgezogen war. \“Der Bußgeldbescheid der Stadt ist also einfach falsch. Sie hat die Demos verwechselt.\“ Eingreifen der Polizei ebenfalls strittig: \“Der Bußgeldbescheid war von Anfang an rechtswidrig\“, sagt auch Kürschners Kanzleikollege Momme Buchholz. Für ihn komme verschärfend hinzu: Aus den Unterlagen gehe nicht zwingend hervor, dass das Ordnungsamt die letzte Versammlung vor Ort per mehrfacher Ansage aufgelöst hatte. Seiner Meinung nach hätte die Polizei noch gar nicht eingreifen dürfen. Wie es tatsächlich abgelaufen ist, hätten in bis zu 60 Verfahren vor dem Kieler Amtsgericht jeweils eigene Beweisaufnahmen klären müssen – unverhältnismäßig hoher Aufwand angesichts der geringen Strafen, bewertete letztlich auch die Staatsanwaltschaft. Sie schlug vor einzustellen, wie bereits berichtet. \“Es ist die Frage, für welche Versammlung wann eine Räumung ausgesprochen worden ist\“, sagt Oberstaatsanwalt Henning Hadeler. Eine unübersichtliche Lage – \“und an diese unklare Lage knüpfen sich auch noch zu viele Rechtsfragen\“. Staatsanwaltschaft und Amtsgericht führen zudem noch die Belastung der Justiz und den hohen Verfahrensaufwand in Corona-Zeiten als Grund für die Einstellung an. Kritik an der Stadt kommt von dort nicht. Ordnungsdezernent Christian Zierau lässt verlauten, die Stadt habe die Entscheidung zur Kenntnis genommen: \“Die Staatsanwaltschaft Kiel hat angeboten, die Hintergründe zu erläutern, was das zuständige Bürger- und Ordnungsamt angenommen hat. Eine weitere Bewertung kann erst nach diesem Gesprächstermin erfolgen.\“ Einen Erfolg feiern hingegen die Demonstranten, die sich in der Einstellung der Verfahren bestätigt sehen – einer von ihnen ist Sebastian Borkowski: \“Manche haben einfach gezahlt, weil sie Angst hatten\“, sagt er betroffen. \“Für uns war es aber wichtig festzustellen, ob wir wirklich zahlen müssen.\“ Borkowski moniert, solche Bußgeldbescheide demotivierten junge Menschen, sich politisch zu engagieren. So werde indirekt die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Rechtsanwalt Kürschner sieht das naturgemäß juristischer – seiner Ansicht nach hatte die Stadt allein schon durch ihre falsch ausgestellten Bescheide keinen Anspruch mehr auf das Verfahren. Dazu kommt noch: \“Die richtigen Bußgeldbescheide können jetzt auch nicht mehr erstellt werden.\“ Denn dafür ist der Tag der Demo zu lange her.