Erneuter Anwerbeversuch durch den Verfassungsschutz Schleswig-Holstein

Wir dokumentieren eine Veröffentlichung der Roten Hilfe OG Lübeck

Am Freitag, dem 7. Juni 2019, kam es in Schleswig-Holstein erneut zu einem Anwerbeversuch durch den Verfassungsschutz. Um ca. 12.30 Uhr klopften zwei Verfassungsschutzbeamte an die Wohnungstür eines jungen Genossen aus dem südlichen Teil des Kreises Ostholstein, welcher sich in antifaschistischen Zusammenhängen in Lübeck bewegt. Die beiden Beamten sprachen den Genossen mit seinem Klarnamen an und stellten sich als Mitarbeiter des Innenministeriums vor, die ein paar Fragen haben.

Unter anderem interessierten sie sich für Auseinandersetzungen, die sich in der Vergangenheit zwischen dem „linken“ und dem „rechten Lager“ ereignet haben sollen. So unterstellte einer der Beamten wörtlich: „Damit haben Sie doch Erfahrung. ‚Nazis aufs Maul‘, das ist Ihnen doch ein Begriff!“.

Als der Genosse diesbezüglich keine Aussage machte und das Gespräch zu beenden versuchte, ließen die Beamten nicht locker und forderten auch die Weitergabe von Informationen über Nazi-Strukturen in Schleswig-Holstein. „Länger raus zu sein heißt ja nicht, dass man keine Informationen mehr hat.“ Einer der Verfassungsschützer erwähnte, dass die linke Szene über „gute Infos“ bezüglich der extrem rechten Szene verfüge, welche teilweise besser seien als deren eigene.

Als der Genosse auch darauf nicht reagierte, fragten die Beamten, ob sie sich Zutritt zur Wohnung verschaffen könnten. Auch das lehnte der Genosse entschlossen ab und fragte nach einem Durchsuchungsbeschluss. Die Beamten gaben an, keinen Durchsuchungsbeschluss zu haben: „Wir sind ja nicht von der Polizei“.

Nachdem zunächst einer der beiden Verfassungsschutzbeamten das Gespräch dominiert hatte, wechselten die Beamten die Gesprächsführung. Der zweite Beamte, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte, bot dem Genossen an, dass man sich auch mal auf einen Kaffee in einer Bäckerei treffen könne. Sichtlich bemüht, sympathisch und auf eine freundschaftliche Art und Weise auf den Genossen einzuwirken, bot er ihm an, dass man auch „zum Fußball gehen“ könne: „Ihnen würden keine Kosten entstehen“. Danach verabschiedeten sich die Beamten und übergaben dem Genossen eine Visitenkarte.

Der Verfassungsschutzbeamte, der am Anfang das Gespräch dominierte, stellte sich mit den Namen „Ronald Michaelis“ vor. Er sei schätzungsweise zwischen 180 und 185 cm groß gewesen, ca. 45 Jahre alt, habe eine schlanke, fast schlaksige Statur gehabt, ein schmales „strenges“ Gesicht, eine Glatze, blaue Augen, eine helle Hautfarbe und ein mittelmäßig gepflegtes Erscheinungsbild. Er habe eine hellblaue Jeanshose und Jacke getragen, darunter ein hellgraues T-Shirt. Im Großen und Ganzen eine eher unauffällige Person ohne markante Kennzeichen wie etwa Bart, Tattoos oder Narben. In der Hand hielt er eine Basecap.

Der zweite Verfassungsschutzbeamte, der weitere Treffen, etwa beim Fußball, anbot, sei schätzungsweise 40 Jahre alt und ca. 175 cm groß, habe sein kurzes schwarzes Haar mit Gel oder Haarwachs gestylt und einen schwarzen, gepflegten Kurzhaar-Vollbart getragen. Erwähnenswert sei auch sein leicht breiter, sportlicher Körperbau, sein etwas kantiges Gesicht und sein eher junges Erscheinungsbild mit einer dunkelblauen Jeanshose und einer weinroten Sweatjacke. Auch er habe keine markanten Kennzeichen gehabt. In der Hand hielt er ebenfalls eine Basecap und zudem eine Sonnenbrille.

Weiterhin gab der Genosse an, dass die Verfassungsschutzbeamten die Gegend zu Fuß verließen. Ihr Auto muss so weit vom Haus entfernt gestanden haben, dass es für ihn nicht sichtbar war.

Die Beschreibung des Verfassungsschutzbeamten, welcher sich als „Ronald Michaelis“ ausgab, zeigt große Übereinstimmungen mit der Beschreibung des Verfassungsschutzmitarbeiters, der eine Genossin aus antirassistischen Zusammenhängen am 1. April 2019 in Lübeck ansprach (https://kiel.rote-hilfe.de/2019/04/13/anwerbeversuch-durch-den-verfassungsschutz-in-luebeck/). Auch hier wurde eine Visitenkarte mit den Namen „Ronald Michaelis“ übergeben. Es ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um die selbe Person handelt.

Dennoch scheint der Name „Ronald Michaelis“ eine fiktive Identität des schleswig-holsteinischen Verfassungsschutzes zu sein, mit dem mehrere Verfassungsschützer ausgestattet werden. So kam es beispielsweise am 18. Januar 2017 in Kiel zu einen Anquatschversuch (https://kiel.rote-hilfe.de/2017/01/19/anquatschversuch-durch-verfassungsschutz-in-kiel/) durch den Verfassungsschutz, bei dem sich ein Verfassungsschutzbeamter ebenfalls mit den Namen „Ronald Michaelis“ vorstellte. Dessen Personenbeschreibung weicht allerdings vom aktuellen Fall sowie dem am 1. April 2019 in Lübeck ab.

Derartige Anquatschversuche gab es in der Vergangenheit in Lübeck öfter. Sie dienen meist dem Ziel, durch scheinbar unverfängliche Gespräche Informationen über politische Zusammenhänge, Personen und Aktionen zu sammeln, können aber – wie im aktuellen Fall – auch in Anwerbeversuche für Spitzteltätigkeiten münden. Ebenso sollen sie die Betroffenen und ihr Umfeld einschüchtern. Der betroffene Genosse handelte daher vollkommen richtig, indem er das Gespräch beendete und danach vertraute Genoss_innen und die Rote Hilfe informierten. Im aktuellen Fall wurde die Rote Hilfe unmittelbar nach dem Anwerbeversuch in Kenntnis gesetzt – das war vorbildlich.

Warum der Verfassungsschutz innerhalb von rund zwei Monaten mehrere Anwerbeversuche in Schleswig-Holstein durchführt, kann nur spekulativ beantwortet werden. Ein möglicher Ansatz können die bevorstehenden Sitzungen der Innenministerkonferenz im Juni in Kiel und im Dezember 2019 in Lübeck sein. Der fast schon krampfhafte Versuch, auf Biegen und Brechen an Informationen von und aus der linken Szene zu gelangen, könnte einer „Gefahrenprognose“ dienen, um „Einsatzkonzepte“ der Polizei zu validieren. Da diese Vermutung auf Spekulation beruht, müssen jedoch auch andere Gründe in Betracht gezogen werden.

Die Rote Hilfe Ortsgruppe Lübeck wird in den nächsten Wochen eine Vortragsreihe zu Anquatsch- und Anwerbeversuchen durchführen. Zudem werden wir unsere Strukturen und deren Umfeld über die aktuelle Entwicklung informieren und weiterhin schulen. Plakate und Broschüren der Roten Hilfe wurden bereits in diversen alternativen und linken Kneipen und Räumen verteilt.

Die Rote Hilfe hat einen Infoflyer zum Umgang mit Anquatschversuchen (https://www.rote-hilfe.de/downloads/category/3-rechtshilfe-a-was-tun-wenns-brennt?download=22:anquatschversuch-was-tun-information-der-roten-hilfe-zu-kontaktaufnahme-von-vs-und-staatsschutz) herausgegeben. Die Behörden legen es darauf an, die Betroffenen zu überrumpeln und zu verunsichern. Umso wichtiger ist es daher, sich gezielt auf mögliche Kontaktversuche vorzubereiten! Die Lektüre des Flyers können wir allen Genoss_innen ans Herz legen.

Macht Anquatschversuche öffentlich – ihr seid damit nicht allein! Die Rote Hilfe steht an eurer Seite. Es bleibt dabei: Anna und Arthur halten’s Maul!

Rote Hilfe Ortsgruppe Lübeck, 11. Juni 2019,